Von Hans-Christian Rößler, Marcus Theurer
Der Strom fließt wieder in Spanien und Portugal. Aber der Schrecken wirkt nach: 60 Millionen Menschen hatten am Montagmittag plötzlich keine Elektrizität mehr, neun Stunden lang kam der Strom nicht zurück. Züge blieben stehen, Internet und Telefone funktionierten nicht mehr. Obwohl Spanien und Portugal eigentlich viel digitaler sind als Deutschland, erlebte das Transistorradio seine Wiederauferstehung.
Der „gran apagón“ (großer Blackout) auf der Iberischen Halbinsel war der bislang folgenschwerste in Europa. Und er hat auch in Deutschland eine Debatte losgetreten: Kann das auch bei uns passieren? Und macht die Energiewende unsere Stromversorgung womöglich anfälliger für solche Störfälle?
„Es gibt kein Nullrisiko“
Mit Blick auf Spanien sagt der Experte für neue Energiequellen Carlos Cagigal der F.A.S.: „Ein neuer großer Ausfall ist sehr unwahrscheinlich, aber es gibt kein Nullrisiko.“ Ähnlich äußerte sich auch die Präsidentin des Netzbetreibers Red Eléctrica, Beatriz Corredor. Spanien habe eines der „besten Systeme Europas“, das Netz sei nicht für den Ausfall verantwortlich. Auch in Deutschland verwies die zuständige Bundesnetzagentur darauf, dass das Stromnetz hierzulande sehr stabil sei.
Spanien zählt zur Ökostrom-Avantgarde in Europa. 57 Prozent der Stromerzeugung stammten vergangenes Jahr aus erneuerbaren Energien wie Windkraft und Photovoltaik. Zum Vergleich: In Deutschland sind es aktuell knapp 50 Prozent. Bekannt ist außerdem, dass am Montagmittag kurz vor dem Blackout große Solarparks in der Region Extremadura im Westen Spaniens ausfielen.
Überlastete Umspannwerke?
Dennoch sind Experten mit der Beurteilung bislang vorsichtig. Dass der Blackout mit dem Ausfall von Solarfarmen zusammenhing, sei technisch zwar möglich, aber bisher nur „eine Theorie von mehreren“, sagt Matthias Foehr, leitender Ingenieur für Netzlösungen bei Siemens Energy.
Der spanische Strommarktexperte Carlos Cagigal wiederum sagt: „Die Solaranlagen, die am Montag vom Netz getrennt wurden, rechtfertigen keinen vollständigen Blackout des Stromsystems der Halbinsel.“ Es sei schon länger bekannt, dass ein großer Teil der Netzknoten und der Umspannwerke überlastet sei.
Andererseits weisen Cagigal und andere Fachleute darauf hin, dass nach dem Stromausfall das Krisenmanagement sehr gut funktioniert habe. Der technisch anspruchsvolle Neustart des Stromsystems gelang in Rekordzeit. „In Kalifornien oder der Türkei gab es nach ähnlichen Situationen tagelange massive Stromausfälle“, sagt Cagigal. Defizite sieht er dennoch: „Wir hatten keine Back-up-Technologie. In Spanien gibt es keine Möglichkeit, Strom zu speichern.“
Aufklärung braucht Zeit
Eine denkbare Ursache für den Blackout wäre grundsätzlich auch Sabotage. Ein Cyberangriff gilt zwar als sehr unwahrscheinlich, aber die Regierung in Spanien legt sich bisher auf keine Hypothese fest.
Ziemlich sicher erscheint derweil nur eines: Die Aufklärung wird Zeit brauchen. Stromnetze zählen zu den technisch komplexesten Infrastrukturen der Welt. Entsprechend schwierig ist die Fehlersuche. Christoph Maurer, Stromnetzexperte beim Beratungshaus Consentec in Aachen, mahnt zur Geduld: „Ausschließen würde ich bisher gar nichts, dazu ist es viel zu früh“, sagt er. „In der Regel sind erst nach drei bis vier Wochen erste Einschätzungen möglich, bis zu einer detaillierten Aufklärung vergehen Monate.“
Rätselhafte Schwingungen im Stromnetz
Manchmal sind die Ursachen für Blackouts auch vergleichsweise trivial. Vergangenen Sommer legte ein Störfall die Stromversorgung auf dem Balkan lahm. Als Grund wurden Monate später in einem Bericht des europäischen Netzbetreiber-Verbands Entso-E wuchernde Pflanzen identifiziert. Sie waren Stromleitungen zu nahegekommen und hatten Kurzschlüsse verursacht.
Beim Blackout in Spanien gibt ein auffälliges Phänomen Rätsel auf: Die Solarparks fielen am Montagmittag um 12.33 Uhr aus, aber bereits in der halben Stunde davor wurden im Stromnetz ungewöhnliche und heftige „Oszillationen“ registriert.
Die Netzfrequenz, die für eine stabile Stromversorgung eigentlich bei 50 Hertz liegen soll, begann schnell nach oben oder unten zu schwingen. Die Frequenz ist, einfach ausgedrückt, die Geschwindigkeit, mit der Wechselstrom durch das Stromnetz fließt. „Bisher weiß aber niemand, wie diese Schwingungen zustande kamen“, sagt der Siemens-Energy-Ingenieur Foehr. Manche Fachleute vermuten, dass sie zum Ausfall der Solarparks geführt haben könnten, aber sicher ist das nicht.
Abrupter Stromüberschuss in Spanien
Nach dem Ausfall der Solarfarmen ging alles sehr schnell. Wenige Sekunden später wurden automatisch die Leitungen getrennt, die das spanische Stromnetz mit dem französischen Netz verbinden, die sogenannten Interkonnektoren. Solche Trennungen sind vorgesehen, um eine Ausbreitung von Instabilitäten im europäischen Stromnetz zu verhindern.
Durch die Abtrennung wurde aber die Situation in Spanien und Portugal noch kritischer. Denn es dürfte dadurch schwieriger geworden sein, Stromerzeugung und -verbrauch im iberischen Netz zum Ausgleich zu bringen. Das aber ist essentiell: In einem funktionierenden Stromnetz muss zu jedem Zeitpunkt genau so viel Energie eingespeist werden, wie gerade verbraucht wird. Sonst gibt es Probleme.
Probleme im Netz an der Stromfrequenz ablesbar
Abzulesen sind solche kritischen Situationen an der Stromfrequenz. Sie steigt deutlich über den Idealwert von 50 Hertz, wenn in Relation zum Verbrauch zu viel Strom im Netz ist – und sie sinkt unter diesen Sollwert, wenn es umgekehrt ist. Steigt oder fällt die Frequenz zu stark, droht ein Blackout.
In diesem Punkt zumindest ist das deutsche Stromsystem gegenüber Spanien im Vorteil. Anders als auf der Iberischen Halbinsel gibt es eine Vielzahl von Stromleitungen, die Deutschland mit europäischen Nachbarstaaten verbinden. Fällt eine dieser Verbindungen aus, gibt es noch viele andere Leitungen ins Ausland, die in Krisensituationen zur Netzstabilisierung beitragen können.
Auch auf der Iberischen Halbinsel wäre man gerne besser angebunden an das europäische Stromnetz. In Madrid und Lissabon wirft man Frankreich vor, den Ausbau der transnationalen Stromleitungen zu blockieren, der weit hinter den Zielen der EU zurückliegt.
Energiewende sorgt für Stress im Stromsystem
Auch wenn der Blackout derzeit noch viele offene Fragen aufwirft: Auf einen Punkt weisen jetzt eine ganze Reihe von Fachleuten hin, der auch außerhalb der Iberischen Halbinsel gilt: Wenn es viel Wind- und Sonnenstrom gibt, dann schafft das neue Herausforderungen für den sicheren Betrieb des Stromnetzes. Zum Zeitpunkt des Blackouts am Montagmittag stammten in Spanien etwa 80 Prozent der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien.
Auch in Deutschland werden Sonnen- und Windstrom immer wichtiger. „Das Stromsystem verändert sich durch die spezielle Technik der Wind- und Solarenergie“, sagt Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur in Bonn und damit Deutschlands oberster Stromnetzaufseher.
Die Erzeugung von Wind- und Solarstrom schwankt stärker als die konventioneller Kraftwerke. Es gebe mehr „Stress“ im System, so Müller. „Unabhängig von den Vorfällen in Spanien bedeutet das: Mechanismen und Vorkehrungen zur Stabilisierung des Netzes werden wichtiger“, sagt er im Gespräch mit der F.A.S.
Konventionelle Kraftwerke stabilisieren das Netz automatisch
In der alten Energiewelt mit Kohle-, Gas- und Atomkraftwerken spielen die zur Stromerzeugung eingesetzten Turbinen eine wichtige Rolle. Die viele Tonnen schweren Kraftwerksturbinen sind mit dem Netz verbunden, ihre Rotoren drehen sich 3000 Mal in der Minute und damit synchron zur 50-Hertz-Frequenz des Stromnetzes.
Wegen ihrer hohen Schwungmassen verlangsamen die Turbinen und daran gekoppelte Stromgeneratoren eventuelle Frequenzänderungen im Netz für kurze Zeit. Das kann bei der Verhinderung von Blackouts entscheidend sein.
„Diese rotierenden Massen können die Stromfrequenz durch ihre Trägheit bei Bedarf für mehrere Sekunden stabilisieren, sie wirken wie ein Stoßdämpfer“, erklärt der Siemens-Energy-Ingenieur Foehr.
Bei Windrädern und Solaranlagen dagegen gibt es diese quasi automatische Frequenzstabilisierung nicht. Neu ist diese Erkenntnis nicht. Die Bundesnetzagentur befasst sich damit nach eigenen Angaben seit Langem. „Das bedeutet auch nicht, dass Stromsysteme mit viel erneuerbarer Erzeugung nicht sicher betrieben werden können“, sagt der Netzexperte Christoph Maurer von Consentec.
Neue Methoden um das Stromnetz abzusichern
Einerseits stünden in Deutschland trotz Energiewende noch immer viele konventionelle Kraftwerke bereit, sagt Netzagentur-Chef Müller: „Wir haben immer darauf geachtet, dass wir einen ausreichenden Anteil an Schwungmasse im Stromsystem haben.“ Andererseits verweist er auf technische Lösungen zur Netzstabilisierung in der Energiewende. „Aber das muss organisiert und finanziert werden“, sagt Müller.
Auch der Ingenieur Foehr von Siemens Energy hält das Problem für beherrschbar. „Es gibt technische Möglichkeiten, um in Stromsystemen mit immer mehr erneuerbarer Stromerzeugung die netzstabilisierende Wirkung konventioneller Kraftwerke zu ersetzen“, sagt er.
Eine Möglichkeit sind sogenannte E-Statcom-Anlagen. Das sind spezielle, superschnell reagierende Stromspeicher, die im Netz installiert werden. Sie können in kritischen Situationen binnen einer Tausendstelsekunde Strom einspeichern oder ins Netz abgeben, um die Netzfrequenz zu stabilisieren.
Als weitere Möglichkeit nennt Foehr sogenannte rotierende Phasenschieber, auch als SynCon-Anlagen bezeichnet: Ein bis zu 130 Tonnen schweres Stahlgewicht wird durch einen mit dem Netz verbundenen Elektromotor synchron zur Netzfrequenz auf 3000 Umdrehungen in der Minute zum Rotieren gebracht. Das sogenannte „Flywheel“ dreht sich rund um die Uhr und kann so ähnlich wie die Turbinen konventioneller Kraftwerke Frequenzschwankungen im Netz dämpfen.
Netzagentur will mehr Schutz vor Cyberangriffen
Drei solcher Phasenschieber-Anlagen gebe es bereits im deutschen Stromnetz, sagt Foehr, die Installation weiterer sei geplant. Die weltweit erste E-Statcom-Anlage entsteht derzeit in Norddeutschland. Sie soll dieses Jahr in Betrieb gehen.
Bleibt die Gefahr von Cyberangriffen. Netzagentur-Chef Müller will den Untersuchungen in Spanien nicht vorgreifen, aber generell gelte, dass man solche Risiken so ernst nehmen müsse wie die Bedrohung von Telekommunikationsnetzen durch Hacker.
„Wir brauchen Cyberresilienz auch für die Millionen von Photovoltaik-Kleinanlagen und deren Dienstleister“, nennt er als Beispiel. Helfen soll in Europa die sogenannte Cyber-Resilience-Richtlinie der EU. „Deshalb ist es wichtig, dass diese jetzt in den kommenden Monaten schnell in Deutschland umgesetzt wird“, fordert Müller. Das würde “deutlich mehr Schutz auch gegen Hackerangriffe im Stromnetz“ bringen.
Blackout heizt Debatte über die Energiewende an
Umbau und Schutz des Stromnetzes werden Zeit brauchen, und sie sind komplex. Die politische Reaktion dagegen kommt sofort und mit Wucht. Auch das ist jetzt in Spanien zu beobachten. Dort hat der Blackout eine Grundsatzdebatte entfacht: über die Energiewende insgesamt und besonders über die Verlässlichkeit von Windkraft und Solarenergie.
Derzeit liefern die fünf spanischen Atomkraftwerke noch rund ein Fünftel des Stroms. Aber ähnlich wie in Deutschland sollen sie von 2027 bis 2035 schrittweise abgeschaltet werden. Das lehnt die rechte Opposition ab. Die Parteien PP und Vox verlangen in einer seltenen Allianz mit den katalanischen Separatisten, die Meiler nicht abzuschalten. „Atomkraft, ja bitte!“ hieß es in dieser Woche auf dem Parteitag der Europäischen Volkspartei (EVP).
F.A.Z. vom 03.05.2025