Von Ralph Bollmann
Man hat den Politikwissenschaftler Herfried Münkler lange für einen ziemlich abgebrühten Analytiker kalter Machtpolitik gehalten. Es waren unerhörte Themen, mit denen er sich früh beschäftigte. Im fernen Jahr 1981, als sich die Fachkollegen mit sanfter Friedensforschung befassten, promovierte er über den verrufenen Niccolò Machiavelli, sechs Jahre später folgte die Habilitation über das kaum weniger verdächtige Thema der Staatsräson. Als wäre das alles nicht genug, verlagerte er sein Interesse anschließend auf die Theorie des Krieges, 1992 erschien der Aufsatzband „Gewalt und Ordnung“. Manch ein Student der Berliner Humboldt-Universität zuckte ein wenig angesichts des Umstands, dass im Wintersemester 1994/95 einen Hauptseminarschein in politischer Ideengeschichte nur erwerben konnte, wer sich zur Lektüre des übrigens gar nicht so schneidigen preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz bereitfand.
Münkler war also bestens präpariert, als die – im Rückblick vielleicht überschätzten – islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 den Traum vom ewigen Frieden nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime jäh beendeten; die Jugoslawienkriege hielten viele nur für ein Randphänomen. Sein Buch über „Die neuen Kriege“ katapultierte ihn in den Rang eines führenden Zeitanalytikers, sein Blick auf die asymmetrische Struktur damaliger Konflikte war an der Theorie des Partisanenkampfs geschult.
Heute, da der russische Präsident Wladimir Putin neben hybriden Formen der Konfliktaustragung wieder einen ganz regulären Staatenkrieg führt und sein amerikanischer Amtskollege Donald Trump das westliche Bündnis für obsolet erklärt, geschieht allerdings etwas Erstaunliches. Der abgeklärte Machtanalytiker Münkler verwandelt sich in einen Idealisten, oder besser: Es wird in diesen im Wortsinn ver-rückten Zeiten deutlich, dass dazwischen vielleicht nie ein Widerspruch bestand.
In gewisser Weise kehrt Münkler damit zu seinen wissenschaftlichen Ursprüngen zurück, zu dem Florentiner Machiavelli, der republikanischen Werten ebenso heiß verbunden war, wie er die Mechanismen der Macht kühl sezierte. Die Aushöhlung der Republik am Arno durch den Populismus der Medici ist uns heute ein ganzes Stück nähergerückt, seit sich an Potomac, Elbe oder Wilder Gera ähnliche Tendenzen zeigen. Nicht umsonst tritt die grüne Partei der Idealisten heute am vehementesten für die Wehrfähigkeit der liberalen Demokratien ein, während die Populisten nicht nur der AfD innenpolitischen Autoritarismus mit außenpolitischer Kapitulationsbereitschaft verbinden.
Entsprechend eröffnet Münkler sein neues Buch über „Macht im Umbruch“, bevor er auf die internationale Politik zu sprechen kommt, mit einem Kapitel über die inneren Verhältnisse der Demokratien im 21. Jahrhundert. Seine Problembeschreibung ist an sich nicht neu – wenngleich eleganter formuliert, wenn er etwa die Herrschaft von Wut und Zorn als „thymotische Energie“ etikettiert (deren Ursprung die alten Griechen eben im „Thymos“, dem Zwerchfell vermuteten). Es geht um die veränderte Kommunikation durch soziale Medien, um den Verlust politischer Führungsfähigkeit oder die Selbstblockade durch bürokratische Verfahren. Sein idealistisch-republikanisches und deshalb wenig optimistisch stimmendes Fazit: „Letzten Endes kann demokratische Selbstbehauptung nur in der politischen Urteilsfähigkeit der Bürger liegen.“
Aus den inneren Verhältnissen heraus erklärt er zugleich die Führungsrolle, die den Deutschen innerhalb der europäischen Union zukommt. Eine Rolle spielt dabei auch die Mittellage, die das Land seit der Osterweiterung vor zwei Jahrzehnten innerhalb der Europäischen Union einnimmt; hier zehrt Münkler von seiner Beschäftigung mit dem Begriff der Mitte, dem er schon im fernen Jahr 2010 ein ganzes Buch widmete.
Rückkopplung mit der Innenpolitik
Aber wichtiger scheinen ihm doch die inneren Verhältnisse zu sein, die sich in Deutschland – noch? – um einiges stabiler ausnehmen als in anderen großen Mitgliedstaaten. Die politische Selbstblockade Frankreichs, die Vorherrschaft gleich mehrerer populistischer Partein in Italien, der Abschied des Vereinigten Königreichs aus der EU lassen die Bundesrepublik im Vergleich als Hort der Stabilität erschienen. Nicht bloß weil sich das gute Fünftel der Stimmen für die rechtspopulistische AfD im internationalen Vergleich noch bescheiden ausnimmt. Sondern auch weil ausweislich der Umfragen noch immer ein weit überwiegender Teil der Bevölkerung in den europäischen Bindungen des Landes mehr Vor- als Nachteile sieht.
Das ist ein Punkt, der gleich auf die nächste antipopulistische Volte in Münklers Analyse überleitet: „Führung“ erfordert die Fähigkeit, eigene kurzfristige Interessen hinter dem langfristigen Ziel einer europäischen Selbstbehauptung zurückstehen zu lassen, die politische Strategie also nicht einer Suche nach dem bloß taktischen Vorteil zu opfern. Angela Merkels Zögerlichkeit im Umgang mit der europäischen Staatsschuldenkrise betrachtet er nicht gerade als Vorbild solch einer strategischen Führung. Auch hier zeigt sich allerdings die Rückkopplung mit der Innenpolitik: Merkel selbst hatte immer darauf beharrt, dass eine entschieden proeuropäische Haltung ihr politisches Scheitern daheim und die Ablösung durch eine entschieden antieuropäische Regierung hätte herbeiführen können.
Für Münklers Analysen spricht, wie unbeschadet sie die politischen Beben überstanden haben, die sich seit der Drucklegung ereignet haben. Dass die Europäer sicherheitspolitisch stärker auf eigenen Beinen stehen müssen, hatte sich schließlich schon seit Barack Obamas pazifischer Wende der US-Außenpolitik abgezeichnet, und mit dem Wahlsieg Donald Trumps vor viereinhalb Monaten war es zum fait accompli geworden. Dass Münkler schon vor der Demütigung des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus die nötigen Schlussfolgerungen zog, desavouiert allerdings die Beteuerungen des designierten deutschen Kanzlers, erst dieser Eklat habe die Wende zu unbegrenzten Rüstungsschulden erfordert.
Überholt hat sich einzig Münklers Vermutung, die Europäer müssten sich in ihrer Mittellage zwischen den Vereinigten Staaten und Russland entscheiden: Indem er sich mit Putin de facto verbündete, hob Trump diese Unterscheidung auf. Inzwischen besteht die Alternative tatsächlich nur noch zwischen Kapitulation und Selbstbehauptung – eine Auswahl, die eine entschlossene europäische Antwort im besten Fall wahrscheinlicher macht.
Ernüchternder als die Analyse der weltpolitischen Verhältnisse nimmt sich im Buch deshalb die Bestandsaufnahme der inneren Verhältnisse in den westlichen Demokratien aus. „Der Westen ist von innen mehr bedroht als von außen“, hatte der Historiker Heinrich August Winkler, dessen These vom langen Weg der Deutschen nach Westen Münkler mehrfach zitiert, vor einem Jahr im F.A.S.-Interview gesagt. Das bleibt leider wahr: Die Aufrüstung gegen Putin kann nur dann ihre abschreckende, friedensstiftende Wirkung entfalten, wenn die Putinisten in der EU nicht die Oberhand gewinnen.